Die Krise der westlichen Gesellschaften

Cornelius Castoriadis (1982)

Ich habe in diesem Wiederabdruck {von 1995} die ersten drei Seiten des Textes von 1982 ausgelassen, die sich auf die jeweilige Situation Russlands und des Westens zu Beginn der 1980er Jahre bezogen. Sie wären heute nur noch von historischem Interesse, obwohl ihr Kernaussage in meinen Augen richtig bleibt. Vierzig Jahre lang hat die Koalition der reichsten Ländern der Erde vor der Macht Russlands gezittert, das, gemessen an der Bevölkerungszahl, nur halb so groß war, über lächerlich geringe Produktionskapazitäten verfügte, im Vergleich zu den ihren, und permanent in einer tiefen inneren Krise steckte. Im Gegensatz zu dem, was erzählt wird, endete die Angelegenheit nicht mit dem Sieg des Westens, sondern mit der Implosion des bürokratischen Regimes, das in dem, was als Niedergangskonkurrenz1 zwischen dem Westen und Russland bezeichnet wurde, zuerst aufgegeben hat. Auf den folgenden Seiten geht es um die westliche Seite dieses Niedergangs.

Ebenso wie die Erklärung der relativen Stärke Russlands verweist auch das Verständnis der relativen Schwäche der westlichen Regime auf gesellschaftliche und geschichtliche Ursachen. Hinter den beschriebenen Fakten liegen Faktoren, die jeder selbst beobachten kann: die Inkohärenz, die Verblendung, die Unfähigkeit der herrschenden Schichten in westlichen Ländern sowie ihres politischen Personals. Doch sind diese Faktoren selbst noch nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit, sie verlangen ihrerseits nach Analyse. Wie und warum kommt es, dass die herrschenden Schichten von Ländern, die fünf Jahrhunderte lang den Planeten dominiert haben, plötzlich solche Verfallserscheinungen an den Tag legen, dass sie sich der russischen Stratokratie gegenüber in einer Position der Unterlegenheit befinden?2 Wie kommt es und warum, dass die reichsten, die produktivsten Gesellschaften, die die Erde je erlebt hat, sich der tödlichen Bedrohung durch ein Regime ausgesetzt sehen, dem es nicht einmal gelingt, seine eigene Bevölkerung anständig zu ernähren und mit Wohnraum zu versorgen? Wie und warum kommt die unglaubliche Bereitwilligkeit der westlichen Bevölkerungen zustande, sich blind zu stellen angesichts der potenziell verheerenden Auswirkungen, die dieser Sachverhalt ganz offensichtlich in sich birgt, und wie und wodurch wird sie am Leben erhalten? Hinter diesen Phänomenen verbirgt sich ein Auflösungsprozess der westlichen Gesellschaften, ohne Ansehen der Klasse. Ungeachtet der aufeinander folgenden Diskurse des letzten Dreivierteljahrhunderts – Untergang des Abendlandes, Zivilisationskrise, Krise der Gesellschaft – wartet diese Auflösung nach wie vor darauf, verstanden und analysiert zu werden. Die folgenden Seiten sind dazu gedacht, einige fragmentarische Elemente zu einer solchen Analyse beizusteuern.

Die Auflösung der Führungsmechanismen

Die Erscheinungsformen dieser Auflösung können durch eine Bestandsaufnahme des nachhaltigen Scheiterns der in allen Kernbereichen verfolgten Politiken (oder noch radikaler formuliert, der Abwesenheit jeglicher Politik) leicht erfasst werden. Wenn die westlichen Gesellschaften weiterfunktionieren, ist das gewiss nicht der Fehler ihrer Führer, sondern Resultat der außerordentlichen Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit (Belastbarkeit) der liberalkapitalistischen Institutionen (von Systemkritikern und -gegnern völlig ignorierte Eigenschaften) und der bereits angehäuften riesigen Reserven aller Art (nicht nur an Reichtum).

Das Fehlen (und/oder die radikale Unzulänglichkeit) westlicher Politiken in Bezug auf die Dritte Welt oder in Rüstungsfragen ist leicht erkennbar. Ich kann hier nur beiläufig auf zwei weitere entscheidende Bereiche eingehen, in denen die gleiche Situation zu verzeichnen ist.

Der erste ist die Ökonomie. Der Kapitalismus hat als Gesellschaftssystem primär durch seinen wirtschaftlichen Erfolg überlebt: annähernde Vollbeschäftigung, Ausdehnung von Produktion und Konsum. Diese Entwicklung war kein Automatismus (genauso wenig wie es umgekehrt ein Zusammenbruch gewesen wäre). Die Ausweitung der Binnenmärkte – auf globaler Ebene unerlässlich für das Gesamtsystem –, bedingt durch einen langfristigen Anstieg der Realeinkommen, wurde ihm durch die Kämpfe der Arbeiter aufgezwungen. Es sollte anderthalb Jahrhunderte dauern, bis das Regime verstanden und in seinen Funktionsmechanismus eingebaut hatte, dass eine der Bedingungen seines dynamischen Gleichgewichts die annähernd gleiche Geschwindigkeit von Konsumwachstum und Produktivitätserhöhung war. Allerdings war diese Bedingung allein nicht ausreichend wegen der nahezu unvermeidlichen Investitionsschwankungen und der von ihnen verursachten Ausdehnungs- und Schrumpfungszyklen. Schließlich waren die Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg gezwungen, die Steuerung der Gesamtnachfrage zu übernehmen, um eine annähernde Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten. Auf diese Weise konnte sich die lange Expansionswelle von 1945 bis 1974 entwickeln, während der die kapitalistische Wirtschaft nur kleinere Schwankungen durchmachte.

Man brauchte kein Geistesriese zu sein, um vorherzusehen, dass eine Phase ununterbrochener Vollbeschäftigung der kapitalistischen Wirtschaft Probleme anderer Art bereiten würde.3 In Großbritannien schon seit den 1950er Jahren offen erkennbar (und durch andere Faktoren verschärft), haben sich diese Schwierigkeiten während der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auf alle Industriestaaten ausgeweitet und zu einem permanent beschleunigten Preisanstieg geführt. Die Serie von Unfällen, die der Vietnamkrieg und seine Art der (Nicht-)Finanzierung in den Vereinigten Staaten, die internationale Währungskrise von 1970, schließlich der Jom-Kippur-Krieg und das Ölembargo darstellten, hat diese Probleme explodieren lassen.

In den letzten acht Jahren [1974–1982] haben die westlichen Regierungen ihre eklatante Unfähigkeit unter Beweis gestellt, mit dieser Situation fertigzuwerden. Die angewandten politischen Maßnahmen haben, global gesehen, zu nichts anderem geführt, als die Expansion zunichte zu machen und eine massive und anhaltende Zunahme der Arbeitslosigkeit heraufzubeschwören, ohne dabei den Preisanstieg spürbar einzudämmen. Zur selbsttragenden Inflation ist eine selbsttragende Stagnation hinzugetreten, und beide verstärken sich wechselseitig. Die absolute geistige Verelendung der herrschenden Kreise äußert sich in ihren Aussagen über das Scheitern des Keynesianismus (als sei unsere Unfähigkeit, den Krebs zu besiegen, der Beweis für das Versagen Pasteurs), der Beliebtheit des Monetarismus (ein Wiederaufwärmen der alten quantitativen Geldtheorie, eine Tautologie, von der man seit langem weiß, dass ihre Verwandlung in eine Erklärungstheorie ein Trugschluss ist) oder neuer dämonologischer Erfindungen wie der supply side economics.4

Wie lange wird das System die ständig steigende Zahl der Arbeitslosen und den stagnierenden Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung noch bewältigen können? Die Inseln relativer (manchmal sogar absoluter) Armut und Verelendung innerhalb der Industriestaaten, deren Bedeutung bisher durch das allgemeine Wirtschaftswachstum und die damit verbundenen Erwartungen (das notleidende Drittel Roosevelts5 reduzierte sich nach und nach auf ein Viertel, dann ein Fünftel) abgemildert wurde, werden zu sich stetig vergrößernden und von mittel- und hoffnungslosen Menschen bevölkerten Arealen. Jene Elemente, denen es, inmitten des Zerfalls der Werte und Motivationen, gelungen war, die Gesellschaft mit Ach und Krach zusammenzuhalten (die Erwartungen eines höheren Lebensstandards und die mehr als minimalen Chancen auf Beförderung bzw. Aufstieg auf der Qualifikations- und Einkommensleiter), sind im Verschwinden begriffen. In einer kapitalistischen Wirtschaft ohne Wachstum wird die Arbeitslosigkeit unweigerlich um einige Prozent der Erwerbstätigen pro Jahr zunehmen (entsprechend dem natürlichen Bevölkerungswachstum plus den Auswirkungen arbeitssparender Investitionen).

Der zweite Bereich – den ich hier nur erwähnen kann – ist der mit den Begriffen Energie, nicht erneuerbare Ressourcen, Umwelt und Ökologie umrissene Komplex von Problemen. Von der aktuellen wirtschaftlichen Stagnation teilweise verdeckt, werden sie sich mit der Zeit verschlimmern. Auch hier sind politische Strategien entweder nicht vorhanden oder stehen in keinem Verhältnis zur potenziellen Bedrohlichkeit dieser Fragen.

 

Oberflächlichkeit, Inkohärenz, Gedankenarmut und inkonsequentes Verhalten sind also augenscheinlich die charakteristischen Eigenschaften der politischen Führungsriegen im Westen. Doch wie lässt sich ihre allgemeine Verbreitung und ihre Dauerhaftigkeit erklären?

Zweifellos spielen die Rekrutierungs- und Selektionsmechanismen des politischen Personals hierbei eine wichtige Rolle. Mehr noch als bei den bürokratischen Apparaten, die andere gesellschaftliche Aktivitäten dominieren, erreicht die Trennung zwischen Aufstiegsmöglichkeiten und der Fähigkeit zu effizienter Arbeit bei den politischen Parteien einen Extrempunkt. Die Politik im landläufigen Sinne des Wortes ist zu allen Zeiten ein merkwürdiges Geschäft gewesen. Sie verlangte stets eine Kombination aus den spezifischen Fähigkeiten und Talenten, die je nach der Art des Regimes erforderlich sind, um an die Macht zu kommen und den erforderlichen Fähigkeiten und Talenten, um diese Macht einsetzen zu können. An sich haben Redekunst, das Sichmerkenkönnen von Gesichtern, die Fähigkeit, Freunde und Anhänger zu gewinnen oder Gegner zu spalten und zu schwächen nichts mit gesetzgeberischem Genie, Verwaltungsgeschick, Führungsstärke im Krieg und in der Außenpolitik zu tun; ebenso wenig wie in einem absolutistischen Regime die Kunst, dem Monarchen zu schmeicheln, in einer Beziehung zur Regierungskunst steht.

Dennoch ist klar, dass ein Regime, gleich welcher Art, nur überleben kann, wenn es seinen Mechanismen und Vorkehrungen zur Auswahl des politischen Personals auf die eine oder andere Weise gelingt, diese beiden Anforderungen irgendwie zu kombinieren. Wir brauchen hier nicht zu untersuchen, wie die westlichen parlamentarischen (oder republikanischen) Systeme in der Vergangenheit dieses Problem gelöst haben. Fakt ist, dass während sich über hundert oder hundertfünfzig Jahre fähige und unfähige Führer an der Macht abgewechselt haben, nur in seltensten Fällen Regierungsunfähigkeit ein entscheidender Entwicklungsfaktor war.

Für die gegenwärtige Periode trifft das Gegenteil zu. Man kann dieses Phänomen auf allgemeine soziologische Gründe zurückführen: umfassende Bewegung in Richtung Entpolitisierung und Rückzug ins Private, Verfall der Kontroll- und Korrekturvorrichtungen, die in den klassischen parlamentarischen Systemen wirksam waren, Aufteilung der Macht unter Lobbys aller Art. Ich werde weiter unten darauf zurückkommen. Doch müssen zwei für die moderne politische Organisation spezifische Faktoren ganz besonders hervorgehoben werden.

Der erste ist mit der Bürokratisierung der politischen Apparate (Parteien) verbunden. Die absolute Regel der totalitär-bürokratischen Partei von heute gilt mehr oder minder für alle Parteien: Die Fähigkeit, innerhalb des Apparats aufzusteigen, hat grundsätzlich keinerlei Bezug zur Fähigkeit, die Aufgaben zu bewältigen, mit denen dieser Apparat betraut ist.6 Die Auswahl der Fähigsten ist die Auswahl derer, die sich am fähigsten erweisen, für ihre Auswahl zu sorgen.

Der zweite ist ein Spezifikum der liberalen Länder. Die Wahl der hauptsächlichen Führer läuft wie man weiß darauf hinaus, die Personen zu bestimmen, die sich am besten verkaufen.7 Im totalitär-bürokratischen Apparat von heute ist der Autoritätstyp weder rational noch traditionell, noch charismatisch, um die Unterscheidungen von Max Weber aufzugreifen.8 Es ist zum Beispiel schwierig, das Charisma von Breschnew zu entdecken. Dieser Autoritätstyp ist neu, man muss erst noch einen Namen für ihn finden: Nennen wir ihn träge Autorität. In liberalbürokratischen (oder weichen) Apparaten, wie den politischen Parteien des Westens, erleben wir hingegen die Rückkehr eines charismatischenAutoritätstyps: Charisma meint hier einfach das besondere, gewissermaßen schauspielerische Talent von jemandem, der die Rolle des Führers oder Staatsmannes spielt. (Das war lange vor der Wahl Reagans offensichtlich, der diesbezüglich nur ein bis zur Platitüde vergröbertes Symbol ist.) Natürlich ist diese Entwicklung auf die unglaubliche Ausdehnung der Medienmacht und die von ihr erzwungenen unterwürfigen Einstellungen zurückzuführen. Was den weiteren Verlauf dieses Prozesses betrifft, so hat Kafka ihn bereits in Josefine, die Sängerin in bewundernswerter Weise beschrieben.9 Sobald der Stamm sich öffentlich darauf geeinigt hat, dass X ein großer Führer ist, fühlt er sich irgendwie verpflichtet, seine Rolle weiterzuspielen, d.h. zu applaudieren.

Diese zufälligen, aber unvermeidbaren Führer finden sich an der Spitze jenes ausgedehnten bürokratischen Apparates wieder, den der moderne Staat darstellt, Träger und organischer Produzent einer ausufernden Irrationalität10, unter dessen Agenten das alte bürokratische Ethos (des hohen Würdenträgers oder des gewissenhaften kleinen Beamten) zunehmend seltener wird. Und sie sind mit einer Gesellschaft konfrontiert, die sich immer weniger für Politik interessiert – d.h. ihr eigenes Schicksal als Gesellschaft.

Das Verschwinden des gesellschaftlichen und politischen Konflikts

Über Jahrhunderte hinweg waren die westlichen Länder wesentlich durch die (ansonsten in der Geschichte praktisch unbekannte) Existenz einer bestimmten gesellschaftspolitischen Dynamik gekennzeichnet. Diese sorgte für das beständige Auftauchen von Strömungen und Bewegungen, die darauf abzielten, die Leitung der Gesellschaft zu übernehmen, die zugleich grundlegende Veränderungen ihrer Institutionen und klare Ausrichtungen für das gesellschaftliche Handeln vorschlugen – beides ausgehend von oder in Verbindung mit Glaubenssystemen (oder Ideologien usw.) und, natürlich, im Widerstreit mit entgegengesetzten Tendenzen und Strömungen.

Doch seit etwa dreißig Jahren {seit den 1950ern} ist das faktische Verschwinden dieser Bewegungen zu beobachten. Auf politischer Ebene im engeren Sinne erhalten die zu rein bürokratischen Maschinen mutierten Parteien nur noch anlässlich von Wahlen eine Unterstützung seitens der Bürger, die in irgendeinem Sinne des Wortes zu mobilisieren ihnen nicht mehr gelingt. Dieselben Parteien sterben an ideologischer Auszehrung, weil sie nur abgedroschenes Zeug wiederkäuen, an das niemand mehr glaubt (die Sozialisten und Kommunisten Westeuropas), oder überholten Aberglauben als neue Theorie und neue Politik ausgeben (Thatcher, Reagan usw.11).

Die heutigen Gewerkschaften sind nicht mehr als Lobbys, die die branchenspezifischen und berufsständischen Interessen ihrer Mitglieder verteidigen. Hier liegt mehr vor, als was ich seit langem, anknüpfend an andere, als Bürokratisierung der Gewerkschaften analysiert habe. Einerseits kann man nicht einmal mehr wirklich von einer einigermaßen geschlossenen Gewerkschaftsbürokratie sprechen, die eigene Ziele verfolgt (egal welche); das einzige Ziel dieser Bürokratie ist ihre Selbsterhaltung. Andererseits genügt es nicht zu sagen, diese Gewerkschaften würden die Interessen ihrer Klientel verraten oder verschachern, indem sie vor allem versuchen, Konflikten mit den Kapitalisten und der Managerbürokratie aus dem Weg zu gehen. Falls erforderlich treten sie sehr wohl in Konflikt, allerdings zur Verteidigung berufsständischer Interessen, die in einer Weise ausgelegt werden, dass sich die verschiedenen Arbeiterkategorien in lauter Lobbys verwandeln.

Die großen Bewegungen, die in den letzten zwanzig Jahren {seit den 1960ern} die westlichen Gesellschaften erschütterten – Jugendliche, Frauen, ethnische und kulturelle Minderheiten, Umweltschützer –, haben sicherlich eine in jeder Hinsicht erhebliche Bedeutung gehabt (die sie potenziell auch behalten), und es wäre voreilig zu meinen, sie hätten ihre Rolle ausgespielt. Doch ihr gegenwärtiges Abebben wirft sie auf den Status von Gruppen zurück, die nicht nur minoritär, sondern zersplittert und auf Teilbereiche beschränkt sind, unfähig, ihre Ziele und Mittel in allgemeingültigen Begriffen zu formulieren, die zugleich objektiv relevant wären und Mobilisierungskraft besäßen.

Diese Bewegungen haben die westliche Welt erschüttert, sie sogar verändert – aber zugleich noch weniger lebensfähig gemacht. Das ist ein bemerkenswerter, aber letztlich nicht überraschender Befund: Denn sie waren zwar in der Lage, die bestehende Unordnung nachhaltig in Frage zu stellen, aber weder willens noch fähig, ein positives politisches Projekt zu entwickeln. Als vorläufige Bilanz, nach ihrem Rückgang, ist ein verstärktes Auseinanderbrechen der Gesellschaftssysteme zu verzeichnen, ohne dass neue Globalziele oder Träger solcher Ziele entstanden wären. Ein Extrembeispiel dafür liefern die Aktivitäten der Protestbewegung in Deutschland. 300.000 Demonstranten gegen die Pershing-Raketen, Zehntausende in Frankfurt gegen den Flughafenausbau; aber kein einziger Demonstrant gegen die Errichtung einer militärischen Terrorherrschaft in Polen.12 Man ist gerne bereit, gegen die biologischen Gefahren des Krieges oder die Zerstörung eines Waldes zu demonstrieren, aber völlig desinteressiert an allem, was bei der aktuellen Weltlage politisch und menschlich auf dem Spiel steht.

Die politische Gesellschaft von heute ist immer zersplitterter, dominiert von Lobbys aller Art, die eine allgemeine Systemblockade verursachen. Jede dieser Lobbys ist faktisch in der Lage, jede Politik wirksam zu hintertreiben, die ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Interessen widerspricht; keine von ihnen hat eine gesamtpolitische Strategie; und selbst wenn sie eine hätten, wären sie nicht fähig, sie durchzusetzen.

Erziehung, Kultur, Werte

Es stellt sich folglich die Frage, in welchem Maße die westlichen Gesellschaften noch in der Lage bleiben, den Typ von Individuum herzustellen, den sie für ihr Weiterfunktionieren brauchen.

Die erste und größte Fabrikationsstätte konformer Individuen ist die Familie. Die Krise der heutigen Familie besteht nicht nur und nicht vorrangig in ihrer Zerbrechlichkeit, statistisch gesehen. Es geht vielmehr um den Zerfall und die Auflösung der traditionellen Rollen – Mann, Frau, Eltern, Kinder – und der damit einhergehenden amorphen Desorientierung der nachwachsenden Generationen. Was weiter oben über die Bewegungen der letzten zwanzig Jahre gesagt wurde, gilt auch in diesem Bereich (auch wenn dieser Prozess im Fall der Familie viel weiter zurückreicht und in den entwickeltsten Ländern schon ein Dreivierteljahrhundert alt ist). Die Zersetzung der traditionellen Rollen bringt den Drang der Individuen nach Autonomie zum Ausdruck und enthält emanzipatorische Ansätze. Allerdings habe ich schon seit langem auf ihre zwiespältigen Auswirkungen hingewiesen.13 Je mehr Zeit vergeht, umso mehr darf man sich fragen, ob dieser Prozess sich eher in der Entfaltung neuer Lebensweisen als in Orientierungslosigkeit und Anomie äußert.

Man kann sich problemlos ein Gesellschaftssystem vorstellen, in dem die Rolle der Familie zurückträte, während sich gleichzeitig der Stellenwert anderer Erziehungs- und Konditionierungsinstitutionen erhöhen würde. Tatsächlich haben viele archaische Stämme, wie im Übrigen auch die Spartaner, derartige Systeme hervorgebracht. Selbst im Westen ist diese Rolle ab einer bestimmten Zeit in zunehmenden Maße vom Erziehungssystem einerseits, dem kulturellen Umfeld andererseits ausgefüllt worden – im Allgemeinen oder im Besonderen (lokal: Dorf; oder arbeitsbezogen: Fabrik usw.).

Allerdings befindet sich das westliche Erziehungssystem seit nunmehr zwanzig Jahren in einer Phase beschleunigten Zerfalls.14 Es durchläuft eine Krise der Inhalte: Was wird vermittelt, was muss vermittelt werden und nach welchen Kriterien? Mit anderen Worten: eine Krise der Lehrpläne und eine Krise dessen, in Bezug worauf diese Lehrpläne erstellt werden. Es erlebt des Weiteren eine Krise im Lehrer-Schüler-Verhältnis: Der traditionelle Typ unangefochtener Autorität ist gescheitert, und neuen Typen – der Lehrer als Kumpel zum Beispiel – gelingt es weder, klare Konturen anzunehmen, noch sich durchzusetzen und zu verbreiten. Doch all diese Beobachtungen blieben rein abstrakt, würde man sie nicht zu der offenkundigsten und augenfälligsten Erscheinungsform der Krise des Erziehungssystems in Beziehung setzen, die niemand überhaupt nur auszusprechen wagt. Weder Schüler noch Lehrer interessieren sich noch für das, was in der Schule als solcher vorgeht, die Erziehung wird von den Beteiligten nicht mehr als Erziehung psychisch besetzt. Sie ist zum lästigen Broterwerb für die Erzieher, zur langweiligen Pflicht für die Schüler geworden, für die sie nicht mehr den alleinigen außerfamiliären Zugang zur Welt darstellt und die nicht das erforderliche Alter (oder die psychische Reife) haben, um sie als zweckgebundene Investition wahrzunehmen (deren Rentabilität im Übrigen immer fragwürdiger wird). Im Allgemeinen geht es darum, an ein Papier zu kommen, das zur Ausübung eines Berufs berechtigt (wenn man denn Arbeit findet).

Man wird einwenden, dass es im Grunde nie anders gewesen ist. Vielleicht. Doch darin liegt nicht das Problem. Früher – es ist noch gar nicht so lange her – waren alle Dimensionen des Erziehungssystems (und die Werte, auf die sie verwiesen) unanfechtbar; das sind sie nicht mehr.

Das junge Individuum, das eine schwache Familie verlässt und eine als lästige Pflicht empfundene Schule besucht (oder nicht besucht), sieht sich mit einer Gesellschaft konfrontiert, in der alle Werte und Normen nahezu restlos durch Lebensstandard, Wohlstand, Komfort und Konsum ersetzt sind. Keine Religion, keine politischen Ideen, keine soziale Solidarität mit einer örtlichen Gemeinschaft oder einem Arbeitskollektiv, mit Klassenkameraden. Wenn es nicht in die Marginalität abgleitet (Drogen, Delinquenz, charakterliche Instabilität), bleibt ihm der Königsweg des Rückzugs ins Private, das es um eine oder mehrere persönliche Marotten bereichern (oder es sein lassen) kann. Wir leben in der Gesellschaft der Lobbys und der Hobbys.

Das klassische Erziehungssystem wurde von oben durch die lebendige Kultur ihrer Zeit gespeist. Das ist beim heutigen Erziehungssystem immer noch der Fall – zu seinem Unglück. Die zeitgenössische Kultur wird mehr und mehr zu einer Mixtur aus modernistischer Hochstapelei und Musealismus.15 Der Modernismus ist schon seit Ewigkeiten ein alter Hut, etwas, das um seiner selbst willen kultiviert wird und oft auf reinem Plagiat beruht, das nur dank des Neoanalphabetismus der Öffentlichkeit nicht auffällt (wie die Bewunderung zeigt, die das kultivierte Pariser Publikum seit einigen Jahren für Inszenierungen hegt, die nur Erfindungen der 1920er Jahre in verwässerter Form wiederholen). Die vergangene Kultur ist nicht mehr Teil einer lebendigen Tradition, sondern Gegenstand musealen Wissens und eines mondän-touristischen Interesses, das sich nach den jeweiligen Moden richtet. Auf dieser Ebene drängt sich, so banal sie auch sein mag, die Bezeichnung Alexandrinismus16 auf (und beginnt bereits, eine Beleidigung für Alexandria zu sein) – umso mehr, als selbst im Bereich der Reflexion Geschichte, Kommentar und Interpretation zunehmend an die Stelle kreativen Denkens treten.

Der Zusammenbruch der Selbstrepräsentation der Gesellschaft

Es kann keine Gesellschaft geben, die nicht etwas für sich selbst ist; die sich nicht als etwas vorstellt – was Konsequenz, Teil und Dimension der Tatsache ist, dass sie sich als etwas postulieren muss.

Dieses Etwas ist kein bloßes gewöhnliches Attribut noch Angleichung an ein beliebiges Objekt natürlicher oder sonstiger Art. Die Gesellschaft postuliert sich als etwas, ein singuläres und einzigartiges Selbst, mit einem Namen (identifizierbar), aber ansonsten undefinierbar (im physischen oder logischen Sinn); sie postuliert sich faktisch als übernatürliche, aber hinreichend kenntliche, detaillierte Substanz, re-präsentiert durch Attribute, die Ausprägungen der imaginären Bedeutungen sind, die die Gesellschaft – und diese Gesellschaft – zusammenhalten. Für sich ist die Gesellschaft niemals eine Ansammlung vergänglicher und ersetzbarer Individuen, die ein bestimmtes Territorium bewohnen, dieselbe Sprache sprechen und äußerlich diese oder jene Bräuche pflegen. Im Gegenteil, diese Individuen gehören zu dieser Gesellschaft, weil sie an ihren gesellschaftlich-imaginären Bedeutungen, an ihren Normen, Werten, Mythen, Vorstellungen, Projekten, Traditionen usw. teilhaben und weil sie (ob sie es wissen oder nicht) den Willen teilen, von dieser Gesellschaft zu sein und diese dauerhaft am Leben zu erhalten. All das ist natürlich Teil der Institution der Gesellschaft im Allgemeinen – und der Gesellschaft, um die es jeweils geht. Die Individuen sind ihre einzigen realen oder konkreten Träger, so wie sie eben von den Institutionen gestaltet und erschaffen wurden – d.h. von anderen Individuen, die selbst Träger dieser Institutionen und der entsprechenden Bedeutungen sind.

Das läuft auf die Aussage hinaus, dass jedes Individuum, in einem für das Bedürfnis/den Gebrauch ausreichenden Maße17, Träger dieser Selbstrepräsentation der Gesellschaft sein muss. Es handelt sich dabei um eine unerlässliche Voraussetzung für die psychische Existenz des Einzelindividuums. Aber, und das ist im vorliegenden Kontext ungleich wichtiger, es handelt sich auch um eine unerlässliche Voraussetzung für die Existenz der Gesellschaft selbst. Das Ich-bin-etwas – Athener Bürger, florentinischer Kaufmann oder was auch immer –, das für das Individuum den psychischen Abgrund verbirgt, über dem es lebt, ist nur erkennbar und nimmt vor allem nur Inhalt und Bedeutung an in Bezug auf die von seiner Gesellschaft erzeugten imaginären Bedeutungen und den von ihr vorgenommenen Aufbau der (natürlichen und sozialen) Welt. Das Bemühen des Individuums, X zu sein oder X zu bleiben, ist per se das Bemühen, die Institution seiner Gesellschaft existieren zu lassen und am Leben zu erhalten. Durch die Individuen hindurch verwirklicht sich die Gesellschaft und spiegelt sich mittels komplementärer Teile wider, die sich nur verwirklichen und widerspiegeln (reflektieren) können, indem sie die Gesellschaft verwirklichen und widerspiegeln (reflektieren). Die Krise der westlichen Gesellschaften von heute kann nun in Bezug auf diese Dimension besonders gut erfasst werden: den Zusammenbruch der Selbstrepräsentation der Gesellschaft, die Tatsache, dass diese Gesellschaften sich nicht mehr als etwas postulieren können (außer auf eine äußerliche und deskriptive Weise) – oder das, als was sie sich postulieren, wegbricht, sich einebnet, sich entleert, sich widerspricht. Das ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass es eine Krise der gesellschaftlich-imaginären Bedeutungen gibt, die den Individuen nicht mehr die Normen, Werte, Bezugspunkte und Motivationen liefern, die sie brauchen, um zugleich das Funktionieren der Gesellschaft zu gewährleisten und für sich selbst ein einigermaßen erträgliches psychisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten (das gewöhnliche Unglück, das Freud dem neurotischen Elend gegenüberstellte18).

Um Missverständnisse oder Spitzfindigkeiten (die so oder so unvermeidlich sind) nach Möglichkeit auszuschließen: Ich sage weder, dass frühere Gesellschaften den Menschen Glück oder Wahrheit boten, noch, dass ihre Illusionen mehr wert sind als die Illusionen, oder die Illusionslosigkeit, der heutigen Gesellschaft. Ich stelle mich auf einen Tatsachenstandpunkt: die Herstellungsbedingungen gesellschaftlicher Individuen, die in der Lage sind, das Funktionieren und die Reproduktion der sie erzeugenden Gesellschaft zu gewährleisten. Von diesem Standpunkt aus ist das Gelten* gesellschaftlich-imaginärer Bedeutungen eine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz einer Gesellschaft. Ebenso wenig kann man sagen, dass die Krise der gesellschaftlich-imaginären Bedeutungen in der heutigen Welt lediglich eine Befreiung, eine Loslösung, ein Sichöffnen der Gesellschaft gegenüber der Frage nach sich selbst erfordert. Damit eine solche Öffnung stattfinden könnte, müsste dieses Gesellschaft etwas anderes sein als eine bloße Ansammlung äußerlich vereinheitlichter und homogenisierter Individuen. Die Gesellschaft kann sich der Frage nach sich selbst nur öffnen, wenn sie sich, in der und durch diese Frage noch als Gesellschaft bejaht; anders ausgedrückt, nur wenn die Gesellschaftlichkeit als solche (und überdies die Geschichtlichkeit als solche) positiv besetzt und als das postuliert wird, was in ihrem Das-sein* außer Frage steht, selbst wenn es in ihrem Was-sein* in Frage steht.19

Was sich heute aber genau in der Krise befindet, ist für den zeitgenössischen Menschen eben die Gesellschaft als solche.20 Wir erleben paradoxerweise gleichzeitig mit einer (faktischen und externen) Hyper- und Übersozialisierung des Lebens und der menschlichen Aktivitäten eine Absage an das gesellschaftliche Leben, die anderen, die Notwendigkeit des Institution usw. Der Schlachtruf des Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert, Der Staat ist das Übel, ist heute zu Die Gesellschaft ist das Übel geworden. Ich spreche hier nicht von den konfusen Pseudophilosophen der Zeit (die übrigens in diesem Punkt, ohne es zu wissen, eine historische Bewegung zum Ausdruck bringen, die weit über sie hinausgeht), sondern zunächst einmal vom zunehmend charakteristischen subjektiven Erleben des zeitgenössischen Menschen. Es handelt sich hier um die extreme Zuspitzung dessen, was ich seit zwanzig Jahren als Privatismus in den modernen Gesellschaften analysiere; weitere Aspekte desselben sind in manchen Analysen aus jüngerer Zeit unter dem Stichwort Narzissmus erörtert worden.21 Doch lassen wir diesen Aspekt beiseite, der eher geeignet scheint, oberflächliche Kontroversen heraufzubeschwören, und stellen wir ganz brutal die Frage: Will der zeitgenössische Mensch die Gesellschaft, in der er lebt? Will er eine andere? Will er überhaupt eine Gesellschaft? Die Antwort ist an Taten ablesbar, bzw. deren Fehlen. Der zeitgenössische Mensch verhält sich so, als sei das Leben in Gesellschaft eine abscheuliche Strafe, die ihm nur durch eine Laune des Schicksals nicht erspart geblieben ist. (Dass dies die ungeheuerlichste und kindischste aller Illusionen ist, ändert natürlich nichts an den Tatsachen.) Der typische Mensch von heute verhält sich so, als müsste er die Gesellschaft ertragen, die er im Übrigen (in Form des Staates oder der anderen) nur allzu bereitwillig für alle seine Leiden verantwortlich macht, während er sie – gleichzeitig – um Unterstützung bittet und von ihr Lösungen für seine Probleme verlangt. Er hegt keine Pläne mehr in Bezug auf die Gesellschaft – nicht den ihrer Umgestaltung, nicht einmal den ihrer Erhaltung/Reproduktion. Er akzeptiert die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr, in denen er sich gefangen fühlt und die er nur insofern reproduziert, als er nicht anders kann. Die Athener oder Römer wollten (ganz ausdrücklich) Athener und Römer sein. Die Proletarier von einst hörten von dem Augenblick an auf, bloßes Objekt der Ausbeutung zu sein, als sie etwas anderes sein wollten, als was das Regime sie zu sein zwang – und dieses Andere war für sie ein kollektives Projekt. Wer könnte also sagen, was der zeitgenössische Mensch sein will? Gehen wir von den Individuen zum Ganzen über: Die gegenwärtige Gesellschaft will sich nicht als Gesellschaft, sie erträgt sich. Und sie will sich nicht, weil sie weder ein positiv besetztes Bild von sich selbst entwerfen oder aufrechterhalten, noch ein Projekt gesellschaftlicher Umgestaltung hervorbringen kann, für das sie sich einsetzen würde und wofür sie zu kämpfen bereit wäre.

 

Von einem entsprechenden Zusammenbruch ist die andere Dimension gesellschaftlicher Selbstrepräsentation betroffen: die Dimension der Geschichtlichkeit, die Selbstdefinition der Gesellschaft hinsichtlich ihrer eigenen Zeitlichkeit, der Beziehung zu ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft.

Ich werde mich, was die Vergangenheit betrifft, damit begnügen, auf das paradoxe Verhältnis hinzuweisen, in dem die heutige Gesellschaft zur Tradition steht und durch welches sie faktisch dazu tendiert, diese Tradition abzuschaffen. Wir erleben ein Nebeneinander von Informationsflut und fundamentaler Ignoranz und Gleichgültigkeit. Das (bisher noch nie in diesem Ausmaß praktizierte) Sammeln von Informationen und Dingen geht einher mit der Neutralisierung der Vergangenheit: Objekt des Wissens für die einen, Touristenattraktion und Hobby für andere, ist die Vergangenheit doch für niemanden Quelle und Wurzel. Als sei es nicht möglich, der Vergangenheit gegenüber eine aufrechte Haltung einzunehmen, als könne man aus dem absurden Dilemma: sklavische Nachahmung oder pauschale Ablehnung, nur durch Gleichgültigkeit ausbrechen. Weder traditionalistisch noch schöpferisch und revolutionär (anders lautenden Geschichten über unsere Epoche zum Trotz), stellt die Art von Beziehung, in der die gegenwärtige Epoche zur Vergangenheit steht, nämlich die vollkommenster Äußerlichkeit, an sich durchaus eine historische Innovation dar.

Lange hat man – und hat dieses Zeitalter – sich einbilden können, dieses seltsame Nicht-Verhältnis zur Vergangenheit rühre von einer neuen und intensiven Beziehung der Gesellschaft zu ihrer Zu-kunft [à venir] her. Marx mit seinem Hohelied auf das bürgerliche Zeitalter auf der einen Seite und die Realität (eine gewisse Realität) der amerikanischen Gesellschaft auf der anderen Seite, trafen in diesem Punkt zusammen. Man ging davon aus, dass die intensive Zukunftsbezogenheit, die Konzentration auf Umgestaltungsprojekte, die von der Moderne selbst herbeigeführten Veränderungen einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit bedeuten (und rechtfertigen) würden. History is bunk (Geschichte ist Quatsch), befand Henry Ford; das Modell T gehörte natürlich nicht dazu.22

Das war für eine gewisse Zeit durchaus richtig (und bleibt zu untersuchen, was hier nicht geschehen kann), ist aber längst nicht mehr der Fall. Was Kultur in einem substantiellen Sinne betrifft, ist die große Zeit moderner Kreativität um 1930 herum zu Ende gegangen.23

Wie hat also diese Gesellschaft ihre Zukunft gesehen? Andere Gesellschaften vor ihr haben sie als endlose Wiederholung oder als Warten auf die Einlösung eines mythischen Versprechens erlebt. Sie ging auf in der Ideologie des Fortschritts – als kontinuierlicher Wandel (Liberalismus) oder als sich in abrupten Sprüngen vollziehende qualitative Umwälzung (Marxismus/Anarchismus).

Tatsächlich sind beide Varianten (banaler und revolutionärer Fortschrittsglaube) der gleichen Globalinterpretation der Geschichte verpflichtet. Dieser Interpretation zufolge gab es eine Unausweichlichkeit des Fortschritts (das war auch die explizite Position von Marx sowie diejenige, die als implizite Voraussetzung erforderlich ist, um seinem Gesamtwerk einen Sinn abzugewinnen). Außerdem gab es, auf einer tieferen Ebene, das Bedürfnis, dass Geschichte Sinn mache (die Rolle des jüdisch-christlichen Erbes war in dieser Hinsicht entscheidend; doch deckte sich dessen Position im Wesentlichen mit der vorherrschenden Position der griechisch-abendländischen Philosophie, nämlich der der Zentralität des Vernunft und göttliche Vernunft gewordenen logos). Dabei war es zweitrangig, dass dieser Sinn in Begriffe des Fortschritts (und nicht mehr z.B. der Prüfung) übersetzt und schließlich in klingende Münze verwandelt wurde, als Akkumulation der Produktivkräfte und Erhöhung des Lebensstandards.24

Diese (bekanntlich schon im 19. Jahrhundert kritisierte) Vorstellung wurde durch den Ersten Weltkrieg, dann durch Faschismus, Nazismus und den Zweiten Weltkrieg schwer erschüttert. Die Beseitigung des Naziregimes, die Expansionsphase der kapitalistischen Wirtschaft und die Entkolonialisierung verschafften ihr ein Vierteljahrhundert zusätzlicher Lebenszeit. Sie profitierte auch noch von einem anderen Umstand: Sie ermöglichte den westlichen Ländern, die Tatsache auszublenden, dass der Sieg über das Naziregime mit einer Konsolidierung und beträchtlichen Expansion des kommunistischen Totalitarismus einherging. Die Unausweichlichkeit des Fortschritts berechtigte dazu, den Kommunismus – zumindest seine abstoßendsten Züge – als vorübergehende Erscheinung zu behandeln und die unvermeidliche Liberalisierung des Regimes abzuwarten, die man zu finanzieren bereit war (und weiterhin bereit ist [1982]).

Das schließliche Erwachen erfolgte spät – aber es war brutal. Die jüngst entkolonisierten Länder stürzten sich keineswegs auf die Wonnen des Parlamentarismus. Der homo oeconomicus ließ sich dort Zeit mit seinem Auftritt, aber als er auf den Plan trat, wie in mehreren Ländern Lateinamerikas, geschah dass, um die große Mehrheit seiner Brüder in tiefstes Elend zu stürzen, unter dem Schutz der von der größten Demokratie der Welt eigens ausgebildeten Militärs und Folterspezialisten. Die Umweltkrise und die Perspektive eines Nullwachstums untergruben von außen die Vorstellung der Zukunft als eine grenzenlosen exponentiellen Wachstums – bevor das die Ölschocks und eine gegen alle Heilmittel resistente Inflation von innen besorgten. Der abendländische Mensch konnte lange Zeit die Wilden als ethnographische Kuriosität und vergangene Epochen der Geschichte als Etappen auf dem Weg in eine glückliche Gegenwart betrachten; er konnte darüber hinwegsehen, dass sechshundert Millionen Hindus, ohne durch irgendetwas dazu gezwungen zu sein, weiter in einem rigiden Kastenwesen lebten (während sie sich gleichzeitig in Parlamentarismus übten und die Atombombe bauten). Die Umtriebe eines Idi Amin oder Bokassa in Afrika; die islamische Explosion im Iran; die Widrigkeiten des chinesischen Regimes; die kambodschanischen Massaker und die vietnamesischen Boat-people haben schließlich aber doch seine Gewissheit erschüttert, die Verwirklichung des immanenten Daseinszwecks der gesamten Menschheit zu verkörpern.25 Hätte er etwas von dem begriffen, was in Russland und den von Russland unterworfenen Ländern vor sich geht, von der Invasion in Afghanistan26, der Errichtung einer Militärdiktatur im sozialistischen Polen, der Volksrepublik, hätte er sich bewusst werden müssen, dass die Gesellschaft, in der er lebt, nur eine sehr unwahrscheinliche Ausnahme in der Geschichte der Menschheit wie auch auf der aktuellen Weltkarte ist.

Diese Infragestellung des vermeintlichen Universalismus der westlichen Kultur musste unweigerlich zurückschlagen auf die Selbstrepräsentation dieser Kultur und das Bild, das sie sich von ihrer Zukunft machen konnte. Die Art dieser Rückwirkung war nicht vorherbestimmt. Der Westen hätte sie auch zum Anlass nehmen können, umso entschiedener die Werte zu vertreten, die er immer noch für sich in Anspruch nimmt. Stattdessen scheint er im Zuge dieser Krise die Selbstbestätigung zu verlieren, die er sich von außen hatte holen wollen. Es sieht ganz so aus, als würden, durch einen sonderbaren Effekt negativer Resonanz, die westlichen Gesellschaften durch die Entdeckung ihrer historischen Besonderheit vollends in ihrem Bekenntnis zu dem erschüttert, was sie einst hatten sein wollen und können und, mehr noch, in ihrem Willen herauszufinden, was sie, in Zukunft, sein wollen.27


  1. Auf den französischen Politologen Pierre Hassner (*1933) zurückgehender Begriff [AdH].

  2. In Devant la guerre. Tome 1: Les Réalités, Paris 1981 versuchte Castoriadis zu zeigen, dass die russische Gesellschaft sich mehr und mehr in eine Stratokratie verwandelte: eine Gesellschaft, in der die Armee (griech.: stratós) und der militärische Komplex zur herrschenden sozialen Formation werden [AdH].

  3. M. Kalecki hatte das in einem berühmten Artikel von 1943vorhergesehen. [Michał Kalecki (1899–1970), polnischer Ökonom, der linke Keynes; bei dem berühmten Artikel handelt es sich um Political aspects of full employment, in: The Political Quarterly, Vol. 14, S. 322–331.] Ich selbst habe das Problem am Beispiel Großbritanniens analysiert, und zwar in Le mouvement révolutionnaire sous le capitalisme moderne, in Socialisme ou Barbarie Nr. 33, Dezember 1961, wiederabgedruckt in Capitalisme moderne et révolution, 2, Paris 1979, S. 149–151 [dt.: Die revolutionäre Bewegung im modernen Kapitalismus, in: Ausgew. Schr., Bd. 2.2]; für das Problem im Allgemeinen und die Inflation der Jahre 1960–1970, vgl. Introduction à l’édition anglaise de 1974, a.a.O., S. 234–258 [dt.Einleitung…" in: Ausgew. Schr., Bd. 2.2].

  4. Die den Keynesianismus als herrschende wirtschaftswissenschaftliche und -politische Doktrin seit Ende der 1970er Jahre ablösenden angebotsorientierten Ansätze reüssierten unter der britischen Thatcher- und der amerikanischen Reagan-Regierung (vgl. Anm. 11). Der Monetarismus (bekanntester Vertreter: Milton Friedman [1912–2006]) setzt vor allem auf Geldmengensteuerung, die supply-side economics auf Steuersenkungen (für Unternehmen) als Wachstumsstimuli [AdH].

  5. Franklin D. Roosevelt (1882–1945), von 1933–1945 US-Präsident, bekämpfte mit seiner staatsinterventionistischen New Deal-Politik die Große Depression der 1930er Jahre und leitete damit, parallel zur Entwicklung des Faschismus in Europa, die Dominanz staatlicher Nachfragesteuerung in der Wirtschaftspolitik der westlichen kapitalistischen Länder ein [AdH].

  6. Vgl. C.C., Devant la guerre, I, Paris 1981, S. 234–247 und die ebd., S. 245 zitierten Texte [siehe auch Anm. [022052]].

  7. Le mouvement révolutionnaire sous le capitalisme moderne, a.a.O., S. 130–140 [dt. in: Ausgew. Schr., Bd. 2.2].

  8. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. Aufl., Tübingen 1990, S. 122-148 [AdH].

  9. Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, zuerst in: Franz Kafka,* Ein Hungerkünstler. Vier Erzählungen, Berlin 1924 (Kritische Ausgabe. Schriften, Tagebücher, Briefe. Drucke zu Lebzeiten*, Frankfurt a.M. 1994, S. 350–377) [AdH].

  10. Vgl. die in Anm. 6 zitierten Texte.

  11. Margaret Thatcher (*1925), konservative britische Politikerin, die als Premierministerin von 1979–1990 eine radikale Privatisierungs- und Antigewerkschaftspolitik durchsetzte; Ronald Reagan (1911–2004), Schauspieler und von 1981–1989 republikanischer US-Präsident, der seine Wirtschaftspolitik an den supply-side-economics (siehe Anm. 4) orientierte und eine aggressive Außen- und Aufrüstungspolitik u.a. gegen missliebige Regimes in Süd- und Mittelamerika sowie gegen das von ihm so genannte Reich des Bösen (die UdSSR) propagierte [AdH].

  12. Nach dem NATO-Doppelbeschluss 1979 (Verhandlungsangebot zur Begrenzung atomarer Mittelstreckenraketen, Ankündigung der Stationierung neuer Raketen vom Typ Pershing II und Cruise Missiles für den Fall des Scheiterns von Verhandlungen) kam es Anfang der 1980er Jahre zu einer breiten westeuropäischen Friedensbewegung. Die Großdemonstrationen gegen die Raketenstationierung insbesondere in der Bundesrepublik waren erfolglos, 1983 wurde mit der Stationierung begonnen. – Die heftigen Proteste gegen die Frankfurter Flughafenerweiterung durch die Startbahn West waren in den 1970er und 1980er Jahren ein zentraler Mobilisierungsfaktor in der westdeutschen Ökologiebewegung. {Zum regressiven Moment dieser Bewegung in Westdeutschland vgl. Wolfgang Pohrt, Ein Volk, ein Reich, ein Frieden, in: Die Zeit, 30. Okt. 1981, online; wiederabgedr. in: ders., Gewalt und Politik, Edition Tiamat, Berlin 2010.} – Im Dezember 1981 wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt, um die wachsende Macht der 1980 aus einer Streikwelle hervorgegangenen Gewerkschaft Solidarnosc zu brechen. Die Gewerkschaftsführung wurde interniert, die verboten Gewerkschaft wirkte aber im Untergrund weiter und wurde 1989 schließlich wieder legalisiert [AdH].

  13. La crise de la société moderne (1965), in: Capitalisme moderne et révolution, 2, a.a.O., S. 293–316 {dt. in: Ausgew. Schr., Bd. 2.2}.

  14. La jeunesse étudiante (1963), a.a.O., S. 259–286.

  15. Transformation sociale et création culturelle, Sociologie et Sociétés, Montréal 1979; wiederabgedruckt in Le Contenu du socialisme, Paris 1979.

  16. Der Begriff Alexandrinismus – nach der 331 v.Chr. von Alexander dem Großen gegründeten ägyptischen Stadt Alexandria – steht für eine nachklassische Epoche, welche die Schöpfungen der zurückliegenden Epoche nur noch archiviert und verwaltet (die Arbeit der die klassischen Texte rekonstruierenden und ordnenden Philologen in der Bibliothek von Alexandria, der bedeutendsten in hellenistischer Zeit), ansonsten mit deren Vielfalt allenfalls spielt, aber selbst nichts Neues hervorbringt [AdH].

  17. Anspielung auf die Aristoteles-Formulierung: pros tén chreian ikanôs (für das Bedürfnis ist es aber ganz gut möglich). Vgl. Wert, Gleichheit, Gerechtigkeit, Politik. Von Marx zu Aristoteles und von Aristoteles zu uns, in: C.C., Durchs Labyrinth, Frankfurt/M 1981, S. 221–276, S. 235, S. 259 [AdH] {jetzt auch in: Ausgew. Schr., Bd. 6}.

  18. Diese oft zitierte Wendung geht zurück auf eine Formulierung Freuds aus den Studien über Hysterie (1895), wo er schreibt, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr [= der Kranken] hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen können (Gesammelte Werke I, S. 312). Hysterie und Zwangsneurose sind für Freud und die Psychoanalytiker die beiden Hauptformen des neurotischen Elends (vgl. Laplanche, J./Pontalis, J.-B., Das Vokabular der Psychoanalyse. Erster Band, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1982, S. 180f.) [AdH].

  19. Das Das-sein (oder Dass-sein) hier im Sinne des Seienden als Vorhandenem, Wirklichem (ens), das Was-sein im Sinne des Wesens (essentia) bzw. des eigentlichen Seins bei Heidegger (vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 11. Aufl., Tübingen 1967, S. 42) [AdH].

  20. Was die russische Gesellschaft betrifft, vgl. Devant la guerre, a.a.O., Kap. IV, insbesondere S. 251-264.

  21. Vgl. Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, München 1982 [AdH].

  22. Henry Ford (1863–1947), Begründer des Automobilkonzerns Ford (1903), der durch Einsatz des Fließbands und der Produktions- und Produktstandardisierung (Modell T) die Formen der modernen Massenproduktion und -konsumtion mit prägte (Fordismus), sagte 1919 in einem oft zitierten Interview mit der New York Times: History is more or less bunk. We want to live in the present, and the only history that is worth a tinker’s damn [etwa: die überhaupt zu etwas taugt] is the history we make today. (zit. n. Keith Sward, The Legend of Henry Ford, New York 1947, S. 110.) [AdH]

  23. Vgl. den in Anm. 15 zitierten Text.

  24. Vgl. Réflexion sur le développement et la rationalité, in C. Mendes (Hg.), Le Mythe du développement, Paris 1977, S. 204-240 (Wiederabgedruckt in Les carrefours du labyrinthe, II: Domaines de l’homme, Paris 1986, S. 131–174). {Dt. in: Ausgew. Schr., Bd. 6.}

  25. Idi Amin (1928–2003), von 1971–1979 ugandischer Diktator, und Jean-Bédel Bokassa (1921–1996), in den 1970er Jahren Diktator in der Zentralafrikanischen Republik, stehen hier als Beispiele brutaler Gewaltherrschaft im Afrika der Zeit. – Die islamische Revolution beendete 1979 das Schah-Regime und etablierte, unter dem Schiitenführer Ruhollah Chomeini (1902–1989), eine Islamische Republik. – In Kambodscha kostete die Diktatur der kommunistischen Khmers rouges in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nach Schätzungen bis zu 2 Millionen Menschen das Leben. – Boat people ist ursprünglich die Bezeichnung für Hunderttausende von Flüchtlingen, die nach dem Sieg der kommunistischen Truppen im Vietnamkrieg nach 1975 versuchten, auf Booten über das südchinesische Meer aus Südvietnam zu fliehen. Bis zu 250.000 sollen dabei ertrunken sein [AdH].

  26. Nachdem 1978 die Kommunisten die Macht übernommen hatten, marschierten Ende 1979 russische Truppen in Afghanistan ein; nach zehnjährigem Krieg mit u.a. von den USA unterstützten islamischen Guerrillatruppen mussten sie 1989 wieder abgezogen werden [AdH].

  27. [Ergänzende Anmerkung 1995] Dass die kapitalistische Wirtschaft vor zwei Jahren in eine Wachstumsphase eingetreten ist, ändert nichts Wesentliches an der obigen Analyse. Dieser bescheidene Aufschwung vollzieht sich übrigens auf der Grundlage neuer, folgenschwerer Entwicklungen. In den letzten fünfzehn Jahren hatten die extreme geistige Regression der herrschenden Klassen und des politischen Personals, die zu einer wirtschaftlichen Liberalisierung auf Teufel komm raus geführt haben (deren glorreiche Vorreiter in Frankreich die Sozialisten waren), und die immer effektivere Globalisierung der Produktion und des Handels den Kontrollverlust der Nationalstaaten über ihre Wirtschaften zur Folge. Wie vorherzusehen, wurden diese Veränderungen von einem explosionsartigen Anwachsen der Spekulation begleitet, die die kapitalistische Wirtschaft mit jedem Tag mehr in ein Kasino verwandelt. Unter diesen Bedingungen hätte selbst die Rückkehr zu keynesianischen Maßnahmen, was eine Kontrolle des Staates über den Außenhandel und die Geld- und Kreditpolitik voraussetzen würde, keine große Wirkung. Vgl. auch den Post-scriptum zu Le délabrement de l’Occident [in: La Montée de l’insignifiance. Les Carrefours du labyrinthe IV. Paris 1996], S. 115–118 [sowie C.C., Die Rationalität des Kapitalismus (1997), in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 16 (2001), S. 425–446] {jetzt auch in: Ausgew. Schr., Bd. 6, sowie online auf Autonomieentwurf.de}.